Ein später Gerichtsbericht

Das Interesse bestimmter Stellen, die von Amts wegen die Veröffentlichungen der ,,Fahrt frei" mißtrauisch beäugten, setzte bereits beim Bericht von der Unfallstelle ein, veröffentlicht in Nummer 14/1977. Wir spürten, daB allein der Weichenwärter die Verantwortung für die Eisenbahnkatastrophe zu übernehmen hatte. Von ,,begünstigenden Umständen" war keine Rede, schon gar nicht dachte jemand daran, die Bedingungen, die zu diesem Zusammenstoß führten, auch nur zu diskutieren. Unseren Zweifeln im Gerichtssaal wurde in den Pausen vom Leiter der Spezialkommission des Transportpolizei Amtes Frankfurt (Oder) mit zum Teil widersinnigen Argumenten begegnet, wie dem Ergebnis eines Tonbandexperiments, aufgezeichnet während einer Fahrt von Booßen nach Lebus. Als Horst Wengler und ich seinerzeit den Gerichtsbericht schrieben, dachten wir gar nicht daran, vordergründig Kritik an der inneren Organisation der DR oder anderen Schwächen des Systems zu üben (die Selbstzensur hatten wir doch trainiert), wir meinten aber, bei einer sachlichen, verständlichen und wahrheitsgemäßer Darstellung des Hergangs der Katastrophe von Lebus um die Beschreibung technischer Details nicht herumzukommen. Dieses Manuskript trug der damalige Chefredakteur zur Politischen Verwaltung der DR und zur Hv BV der DR. Dort wurden all jene Passagen getilgt. Die auf die primitiven Sicherungsanlagen hinwiesen oder sie ansatzweise erkennen ließen. Zurück kam ein Manuskript, das mit einem Gerichtsbericht nichts mehr zu tun hatte und statt zur Aufklärung zur Vernebelung des Ablaufs vor der Katastrophe beitrug. Übrig blieben seitenlange Appelle, es mit den Pflichten genau zu nehmen. Unsere Konsequenz: Wir zogen unsere Namen unter dieses Papier zurück; so erschien in der Nummer 16/1977 ein ungezeichneter Gerichtsbericht.  Der Leser, also der Eisenbahner in der DDR, wurde durch einen derartigen Bericht für unmündig erklärt, Informationen wurden durch Gerüchte ersetzt; die Wahrheit über Booßen sprach sich doch herum. Auf unsere Argumente hatte man stets das Wort vom „Futter“ für den Klassengegner" bereit. Wie bequem wurde es doch denen gemacht, die Verantwortung zu tragen hatten!


 

Der Fall Lebus

Worte gibt es, die man nicht so schnell vergißt. Etwa die Otto Arndts vor den Fernsehkameras von Ost und West, hinter sich die Trümmer des D 1918 Zittau-Stralsund: „Die vorhandenen Sicherungsanlagen arbeiteten einwandfrei." Spektakulär war die Eisenbahnkatastrophe am 27. Juni 1977 nicht allein wegen der 29 Toten, 7 Verletzten und des gewaltigen Schadens von 4 Millionen Mark, sondern auch, weil der Schnellzug mit einem Güterzug zusammengestoßen war auf einer Strecke, die für den D 1918 gar nicht bestimmt war. D 1918 hatte von Frankfurt (Oder) über Booßen- Schönfließ Dorf- Seelow- Angermünde zu fahren und nicht nach Kietz. Eisenbahner wie die Öffentlichkeit fragten nach dieser Fehlleitung. Am 26. Juni mußte auf Anordnung der Dispatcherleitung Dg 61180 Frankfurt (Oder) Rbf- Kietz auf Gleis 2 des Bahnhofs Booßen abgestellt werden, weil Kietz nicht aufnahmefähig war. Die Lokomotive fuhr nach Frankfurt (Oder) zurück. Um 0.45 Uhr des 27. Juni meldete der Fahrdienstleiter in Podelzig dem Fahrdienstleiter in Booßen die Lzz 41440 ab, die in Booßen nur über das Gleis 4 fahren konnte, da Gleis 2 ja besetzt war. Der Booßener Fahrdienstleiter Sch. beauftragte H., den Wärter von „W1", den Fahrweg einzustellen und zu sichern. H. meldete vorschriftsmäßig, daß das geschehen sei, obwohl er die Weiche 3 in der Minusstellung beließ. Sie hatte als Schutzweiche in Plusstellung zu stehen. Dann schlief er ein. Die Lzz erreichte Booßen um 1.05 Uhr, der Fahrdienstleiter stellte sie in seinem Bezirk auf dem Gleis 2 ab, mußte sie doch die Kreuzung mit D 1918 abwarten. Ihn meldete „Fgr" voraus. Sch. beauftragte H., die Weichen 3 und 4 für D 1918 in die Minusstellung zu bringen, was H. bestätigte. Weiche 3 befand sich bereits in der Minusstellung, obgleich sie beim vorangegangenen Lokomotivzug als Schutzweiche in Plus hätte stehen müssen. Die Weichen in ihren Stellungen zu belassen bzw. sie nur dann umzustellen, wenn dies unbedingt nötig war, also den Aufwand zu optimieren - das entsprach der Bequemlichkeit des Wärters, einer Bequemlichkeit, die er sich von den Kollegen abgesehen hatte. Die Weiche 4 lag in Plusstellung, und auch die ließ der schläfrige H. in ihrer Stellung, obwohl er zum Umstellen dieser Weiche vom Fahrdienstleiter extra aufgefordert worden war. Der Fahrstraßenschlüssel für die Fahrt auf Gleis 4 nach Schönfließ hätte sich nicht schließen lassen. (wie sich auf einem regulären Stellwerk der Fahrstraßenhebel hätte nicht schließen lassen), wäre er benutzt worden. H. meldete ungeachtet dieser Unsicherheit, auch ohne den Fahrweg mit Augenschein zu prüfen, ganz unbesorgt: „Fahrweg für Zug 1918 in Richtung Schönfließ Dorf aus Gleis 4 gesichert. Fahrstraßenschlüssel c2/1 geschlossen." So lauteten jedenfalls die übereinstimmenden Aussagen von H. und Sch. vor Gericht. Sch. stellte das Signal C auf Fahrt. D 1918 fuhr, wie bereits erwähnt, nicht in Richtung Seelow, sondern nach Kietz! H. bemerkte das nicht einmal, er schlief. Erst der Unfallruf des Zugführers schreckte auf. Von Kietz war Dg 50101 unterwegs. Im Kilometer 17,5, westlich vom (außer Betrieb gesetzten) Bahnhof Lebus stießen beide Züge zusammen. Lokomotivführer G. auf der 132 200 sah den Zug auf sich zukommen, er rettete sein Leben, indem er unmittelbar vor dem Zusammenstoß absprang, sich dabei aber schwer verletzte. Der Beimann blieb auf der Lokomotive und wurde getötet. Auch das Lokomotivpersonal auf der 030078 verstarb auf dem Führerstand im Laufe des Unfalltages. Beide Züge hatten sich derart ineinander geschoben, daß der erste Reisezugwagen, Gattung Bghw, nicht mehr zu sehen war, die beiden folgenden Wagen waren zusammengestaucht. In diesem Gewirr von Stahl und Eisen steckten auch die Güterwagen, ausgelaufenes Öl begann zu brennen. Der Brand dehnte sich auf die Lokomotive und die ersten drei Güterwagen aus.  Die hochgedrückte 03 über den Wagentrümmern - ein gespenstisches Bild. Viel schlimmer war es, daß 26 Reisende den Zusammenstoß nicht überlebten, meist Kinder aus dem Kreis Zittau, die ins Betriebsferienlager an der Ostsee fahren wollten. Noch am Unfalltag wurde der Weichenwärter verhaftet. Als hätten sich alle Beteiligten abgesprochen, war jetzt nur noch von dessen Pflichtverletzung die Rede, bis hinein in den Saal des Frankfurter Gerichts. Dem Leser mag aufgefallen sein, daß die - im Bahnhofsbuch vorgeschriebenen - Abläufe ein wenig sonderbar und umständlich waren. Da wurde dem Wärter vor jeder Zugfahrt jedes Umstellen der Weiche in eine bestimmte Stellung vorgeschrieben. Das hatte er im Einzelfall auch noch zu melden. Danach erst durfte die Meldung über die Fahrwegsicherung abgegeben werden. Selbst bei einfachen Verhältnissen sind derartige Meldungen im Regelfall nicht gebräuchlich. Aus gutem Grund. Der Mensch neigt zur Bequemlichkeit und unterläßt das, was er von seinem Standpunkt aus für unnötig hält. Dazu kann man das Bedienen von Flankenschutzeinrichtungen rechnen, noch dazu auf einem Bahnhof, wo während der Zugfahrten nicht rangiert wird. Gegen dieses gewohnheitsmäßige Unterlassen wächst ein Kraut: Nicht ein Offener Brief, kein Appell, sondern eine Sicherungsanlage, die zum Bedienen dieser Einrichtungen zwingt. Vor der Jahrhundertwende erfunden und eingeführt.„Zwischen dem Signal und den zur Fahrstraße gehörenden Weichen, Riegeln und Flankenschutzeinrichtungen besteht Signalabhängigkeit, wenn das Signal erst auf Fahrt gestellt werden kann, nachdem die Weichen, Riegel und Flankenschutzeinrichtungen richtig gestellt sind und in dieser Stellung verschlossen bleiben, solange das Signal auf Fahrt steht." (§ 38 Abs. 5 der FV) Die Signalabhängigkeit ist für Hauptbahnen, und an solcher lag und liegt der Bahnhof Booßen, nach § 21 Abs. 8 der Eisenbahnbau- und Betriebsordnung (BO) vorgeschrieben. Die Geschwindigkeit im Bahnhof auf 50 km/h zu begrenzen, ist nur im Störungsfall zugelassen, nicht zulässig ist es, mit diesem Trick "Inseln" von Nebenbahnen im Hauptbahnnetz zu schaffen und so den gesetzlichen Sicherheitsstandard zu unterlaufen. Was im AzFV der Rbd Berlin enthalten war, zeigte einen Sicherungsmangel an, bedeutete nicht die Sanktionierung eines Zustandes. Hätte diese Signalabhängigkeit bestanden, wäre der Weichenwärter gezwungen gewesen, die ortsbedienten Weichen umzustellen, und erst dann hätte der Fahrdienstleiter das Ausfahrsignal auf Fahrt stellen können. Die Signalabhängigkeit fehlte seit 1974. Booßen war einst den Grundsätzen gemäß ausgerüstet. Nach 1945 gab es beim  Fahrdienstleiter, als einziges Stellwerk,  nur ein Schlüsselwerk zur Herstellung der Signalabhängigkeit. „Wegen stärkerer Belastung der Strecken ..." erhielt der Bahnhof am 1. Juli 1974 ein zusätzliches Schlüsselwerk beim neu errichteten Stellwerk ;,W 1". Seitdem fehlte die Abhängigkeit zwischen den Weichen 1 bis 4, die der Wärter bediente, und den Hauptsignalen A, B, C, D, die der Fahrdienstleiter bediente. Die Abhängigkeit wurde durch Verhaltensanforderungen ersetzt, sicherlich bereits fragwürdig, als man die neue Anlage vorbereitete. Sicherheit wurde der Leistungsfähigkeit der Strecke untergeordnet. Dazu sagte der Sachverständige in der Hauptverhandlung nichts, er wurde auch nicht dazu gefragt. Er beschränkte sich darauf, auf die Pflichten des Weichenwärters einzugehen. In dem dem Gericht vorgelegten „Komplexgutachten" war von der Signalabhängigkeit zwar die Rede, aber von der, wie sie auf Nebenbahnen vorgeschrieben ist. Das Booßen an einer Hauptbahn liegt und deshalb andere Erfordernisse gelten, wurde verschwiegen. Halbe Wahrheiten sind auch Lügen. Gelogen aus schlechtem Gewissen, aus Unterordnung? Während einer Verhandlungspause bestürmten Zuschauer den Sachverständigen, ob er nicht übersehen habe, daß am Ausfahrsignal der Richtungsanzeiger fehle. Der Sachverständige entgegnete, das sei nicht notwendig! Im Gutachten stand aber: „Zusätzlich sollten in verstärktem Maße bei ähnlich gelagerten Streckenführungen (Parallelverlauf von zwei Strecken) gemäß DV 301, Signalbuch §10, Seite 48, Signale Zs 4 - Richtungsanzeiger - installiert werden." Sie sollten nicht nur, sie mußten! Nach den „Grundsätzen für die Ausgestaltung der Sicherungsanlagen auf Hauptbahnen und den mit mehr als 60 km/h befahrenen Nebenbahnen", eingeführt mit Verfügung des Stellvertreters des Ministers (SF 1-1 Ssb47) vom 30. April 1959, heißt es: „Die Anwendung von Richtungsanzeigern ist auch erforderlich, wenn z. B. Ausfahrten nach verschiedenen Richtungen in allen Fällen auf Signal ,Fahrt mit Geschwindigkeitsbeschränkung' durchgeführt werden." Das Fehlen des Signals Zs 4 stellte eine weitere Beschränkung des Sicherheitsniveaus dar. Kaum wurde über den Anteil des Lokomotivpersonals des D 1918 am Zustandekommen des Zusammenstoßes gesprochen. Es konnte nicht gefragt werden; zumindest im Ermittlungsverfahren mußte man jedoch auf einige Pflichtverletzungen stoßen. Die begannen im Bahnbetriebswerk Stralsund, das für die Personale die sogenannten Belehrungsfahrten organisierte. Ein Triebwagen wurde bestellt, der Fahrplan für zwei Sonderzüge in jede Richtung Angermünde-Frankfurt (Oder) eingelegt. Die Personale fuhren aber nur einmal hin und zurück, dann wußten sie angeblich über die Strecke Bescheid. Lockte der Feierabend? Niemand kontrollierte, ob sie nun streckenkundig waren, abgesehen davon, daß § 7 der DV 938 diese Art und die Verkürzung beim Erwerb der Streckenkenntnis nicht zuließ. Bislang fuhr Stralsunder Diesellokpersonal bis Seelow. War der Einsatz des Dampflokpersonals auf der Strecke bis Frankfurt (Oder) wirtschaftlich überhaupt vertretbar? Bei der Leistungsverteilung im April 1977 mußte doch jemand geahnt haben, welcher Aufwand dafür notwendig wurde, so daß es das Beste gewesen wäre, auf diese Lokomotivkupplung zu verzichten. Die Belehrungsfahrten im Triebwagen und verkürzt waren im Bw Stralsund üblich, der Stab der Rbd Greifswald soll empfohlen haben, die Belehrungsfahrten an schwachbelasteten Tagen durchzuführen. Lokomotivführer G. fuhr den Zug aber nicht am Tage, sondern des Nachts, vom 26. zum 27. Juli zum sechsten Mal, der Heizer zum vierten Mal. Der Sachverständige schloß im Gutachten nicht aus, daß der Lokomotivführer auch bei vorschriftsmäßig erworbener Streckenkenntnis nicht bemerkt hätte, auf der falschen Strecke zu sein. Das er auf einer für 100 km/h Geschwindigkeit zugelassenen Hauptbahn war, durfte er wohl nicht annehmen, als er zwischen Booßen und Lebus zwei ungesicherte Wegübergänge befuhr! An den Pflichtverletzungen des Weichenwärters H. gibt es nichts zu deuteln. Im Urteil heißt es: „Das Motiv seiner Verhaltensweise war sehr verwerflich. Der Angeklagte wollte sich aus Bequemlichkeit die Arbeit erleichtern. Im Zusammenhang mit der Fahrt des D 1918 scheute er die Erfüllung seiner Dienstpflichten, für die er nur etwa 3 Minuten benötigt hätte." Für die Folgen seiner Bequemlichkeit hatte er mit fünf Jahren Freiheitsentzug einzustehen. Viel, wenig, gerecht? Der Strafrahmen ließ auch acht Jahre zu. In der DDR herrschte der Strafenfetischismus. Zum Vergleich: Der Lokomotivführer, der am 23. Dezember 1939 in Genthin infolge Nichtbeachtung eines haltzeigenden Signals den schwersten deutschen Eisenbahnunfall mit 186 Toten und 106 Verletzten herbeiführte, wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Sich mit einem Unfall und einer Gerichtsverhandlung auseinanderzusetzen, die 13 Jahre zurückliegen, kann und soll zuerst den Zweck erfüllen, einen weißen Fleck in der Eisenbahngeschichte zu tilgen. Dann aber auch der Wahrheit dienen. Der Sachverständige ist kein Richter, schon gar nicht hat er sich den Vertuschungsabsichten der Verwaltung zu beugen. Die Eisenbahner und die Öffentlichkeit hatten ein Recht, die Wahrheit zu erfahren, und die war nicht allein beim Weichenwärter H. zu suchen. Ohne Suche nach Wahrheit, ohne der Sache auf den Grund zu gehen, konnte man sich und kann man sich die Auswertung einer Katastrophe sparen, eine Auswertung, die ähnliches verhüten soll. Wenn der Minister wider besseres Wissen von ordnungsgemäßen Sicherungsanlagen sprach, sollen wir ihn deshalb verurteilen? Sollte er zugeben, daß der Fall von Lebus das Symptom einer unterentwickelten, mit Provisorien lebenden Eisenbahn ist? Was schicklich war, entschieden damals andere. Der Sekretär eines Zentralkomitees stellte sich über einen Minister und das gewählte Mitglied dieses Zentralkomitees. Da konnte eben nicht sein, was nicht sein durfte. Bleibt nachzutragen: H. beging nicht Selbstmord, wie oft gesagt wird. An die Stelle der „einwandfrei funktionierenden Sicherungsanlagen" trat am 18. Dezember 1979 (anderthalb Jahre nach dem Unfall!) ein elektromechanisches Stellwerk. Signal C ist seitdem mit dem Richtungsanzeiger ausgerüstet.

 

Erich Preuß

 

 

 

 

 

 

 

Fotos: Lothar Meyer